Der Amtsarzt im ...

Abenteuer eines Amtsarztes
Unglaublich wahre Kurzgeschichten

... Lauf der Zeit

10. Der Mörder

Wahnwitziger als jede Phantasie kann die bittere Realität sein. Das soll die folgende Geschichte belegen. Sie spielt in der Zeit, als noch das alte Entmündigungsrecht in Kraft war. Beim Gesundheitsamt vorgeladen war ein etwa 40-jähriger Metzger. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft beim Landgericht München sollte festgestellt werden, ob die Voraussetzungen für eine Entmündigung gegeben waren. Der eigentliche Anlass für die Untersuchung war das beharrliche Nachhaken einer Amtsärztin an der Grenze zu Frankreich.

Gelassen saß der beleibte und dichtbehaarte Mann auf seinem Besucherstuhl. Auf die Frage, ob er sich denken könne, warum er vorgeladen sei, äußerte er ohne Gemütsregung, das hänge wohl mit dem Mord zusammen, den er vor über fünf Jahren in Frankreich verübt habe. Aha, dachte der Amtsarzt, also irrationale Wahnvorstellungen, es scheint also tatsächlich psychiatrischerseits etwas vorzuliegen. Natürlich ließ er sich die Geschichte ausführlicher erzählen. Herr B. hatte sich zu einem Sprachstudium nach Paris begeben. Dabei verliebte er sich in seine junge Lehrerin, die ihn leider nicht erhörte. Da sie aber auch keinem anderen gehören sollte und er auf ewig mit ihr vereint sein wollte, habe er sie mit einem eigens besorgten Messer erstochen. Knappe 1 ½ Jahre später sei er dann nach Deutschland abgeschoben worden. Seither sei er wieder frei und lebe in seinem Heimatort, wo er seiner Arbeit nachgehe. Irgendwie kam dem Amtsarzt die ganze Angelegenheit eher spanisch als französisch vor und er ließ sich die einschlägigen Unterlagen kommen. Und siehe da, alles stellte sich als wahr heraus! Herr B. hatte tatsächlich in Paris einen Totschlag an einer jungen Französin verübt und war noch am gleichen Tag inhaftiert worden. Nach 14-monatiger Untersuchungshaft war er dann auch psychiatrisch untersucht worden. Da die französischen Ärzte ein "Délire érotomaniaque", also eine Art Liebeswahn diagnostiziert und ihn für unzurechnungsfähig erklärt hatten, war er weitere 4 Monate in einer Nervenklinik geschlossen untergebracht worden. Dann war er wegen der sprachlich besseren Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen des europäischen Fürsorgeabkommens den deutschen Behörden überstellt worden. Die Amtsärztin an der Grenze konnte allerdings keine Geisteskrankheit feststellen. Damit entfielen die Voraussetzungen für eine geschlossene Unterbringung in einem deutschen Nervenkrankenhaus. Ihrer Meinung nach wären die Justizbehörden für den Fall zuständig gewesen. Andererseits lag strafrechtlich in Deutschland gegen Herrn B. nichts vor, sodass auch die Polizei keine Handhabe hatte. Mord ist kein sogenanntes Weltverbrechen, wo ein sofortiges Eingreifen möglich gewesen wäre. Der langen Rede kurzer Sinn: Noch am gleichen Tag konnte Herr B. deshalb ungehindert in seinen Heimatort weiterreisen. Da die Amtsärztin dies nicht verantworten wollte, schaltete sie verschiedene deutsche Justizbehörden ein, wobei sich allerdings vorerst keine für zuständig erklärte. 3 ½ lange Jahre ließ sie nicht locker und schaltete sogar ihren Anwalt ein. Dann endlich bat die hiesige Staatsanwaltschaft unser Amt, warum auch immer, um gutachterliche Äußerung, ob die Voraussetzungen einer Entmündigung nach dem damaligen § 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gegeben seien. Bei der jetzigen Untersuchung zeigten sich wie damals bei der Kollegin keine Anzeichen einer psychischen Erkrankung. Bis zur Klärung der Angelegenheit ordnete das Gericht an, dass der geständige und überführte Mörder sich regelmäßig einem Nervenarzt vorstellen sollte zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr. Erst als dieser berichtete, dass sich Herr B. erneut verliebt habe, aber nicht erhört werde, wurde er wieder geschlossen untergebracht, über 5 Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland! Geschichten, die das Leben schreibt.

(1988)


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