Der Amtsarzt im ...

Abenteuer eines Amtsarztes
Unglaublich wahre Kurzgeschichten

... Lauf der Zeit

1. Die Amtseinführung

Im Alter von 35 Jahren hatte er seinen letzten Milchzahn verloren. Dieses Ereignis hatte das Ministerium offenkundig von der erforderlichen Reife des Bewerbers überzeugt, sodass es ihn zum Leiter des Gesundheitsamtes Garmisch-Partenkirchen bestellte.

Der in jeder Hinsicht schwergewichtige und redebrillante Bürgermeister des Kreisortes teilte diese Ansicht nicht. Beim Antrittsbesuch des neuen Amtsarztes mit Zahnlücke und Rundbrille, noch dazu kein Hiesiger, äußerte der Marktvorsteher unverblümt: "Für mich muss ein Amtsarzt ein seriöser, älterer Herr sein!" Worauf nur die fast philosophische Erwiderung möglich war: "Dann lassen Sie mir halt einfach die Zeit, alt zu werden!"

Der Bürgermeister wäre sicher in seiner Meinung bestätigt worden, wenn er das weitere Geschehen hätte mitverfolgen können. Vor dem Antrittsbesuch hatte sich der Amtsarzt in seinem Büro gebührend in Schale geworfen. Um beim Umkleiden nicht gestört zu werden, hatte er den Schlüssel von innen eingesteckt, aber leider beim Verlassen die Tür achtlos zugeworfen. Nun bei der Rückkehr ins Amt musste er feststellen, dass Tür und Fenster seines Zimmers im 1. Stock versperrt waren. Wie viel ein Schlüsseldienst kostet, wusste er aus ähnlicher häuslicher Erfahrung. Geprägt durch zu viele Fernsehkrimis und weil ihn das schon immer gereizt hatte, stieß er also einen Urschrei aus und trat die eigene Tür ein. Das Schloss aber hielt. In einer Wolke aus Gips und Mörtel stürzte der Amtsarzt mit Tür samt Türstock in sein Zimmer. Verschreckt erschienen auf dem Flur die Sekretärinnen. Noch Monate, wenn nicht Jahre später wussten sie nicht, wie sie ihren neuen Chef einordnen sollten. Dieser stellte zudem mit Entsetzen fest, dass auch seine gute Hose bei der Aktion Schaden genommen hatte und im Schritt weit offen klaffte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als im flugs übergeworfenen Arztkittel mit nackt-behaarten Beinen zu warten, bis eine nähkundige Mitarbeiterin die Hose notdürftig zusammengeflickt hatte.

Es folgte die offizielle Amtseinführung. Schon im Vorfeld ging einiges schief. Kaum waren die 80 Einladungen gedruckt und verschickt, änderten sich Veranstaltungsort und Festredner. Einladende Behörde war zwar die Regierung von Oberbayern. Diese habe aber für so etwas kein Geld, wurde dem frischgebackenen Amtsleiter bedeutet. Es werde erwartet, dass er die Bewirtung übernehme. Schließlich erbarmte sich der Landrat. Vielleicht ahnte er damals schon, dass ihm Jahre später das Gesundheitsamt in den Schoß fallen sollte.

Und dann war der große Tag da. Die Begrüßung übernahm völlig ungeplant ein amtsbekannter Säufer, der zufällig draußen am Eingang vorbeikam. "Schaut Euch diese Bonzen an, schlemmen und prassen schon wieder auf unsere Kosten!" schallte es den betretenen Ehrengästen entgegen.

Die Feier selbst verlief fast programmgemäß. Bis zuletzt hatte der junge Amtsarzt an seiner Antrittsrede gefeilt. Schließlich wollte er ein Gesundheitskonzept für seine nächsten dreißig Dienstjahre vorstellen. Ausgerechnet an diesem wichtigen Morgen war jedoch seine feste Zahnspange zerbrochen (die den bleibenden Zahn an die Stelle des verlorenen Milchzahns ziehen sollte). Der Rest der Drahtfeder ragte nun frei in den Mund und drückte auf die Zunge. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit zwangsläufig verwaschener Sprache seine Rede durchzuziehen. Was mochten wohl die Zuhörer von ihm denken? Hatte sich der neue Amtsarzt etwa Mut angetrunken? Je mehr die Zunge anschwoll, um so schwieriger wurde die Artikulation. Offenbar hatte man ihn aber doch bis zum Ende verstanden, wo er beim Thema Gesundheitsförderung seine eigenen Risikofaktoren abhandelte. Am nächsten Tag schlug ihm nämlich in der örtlichen Presse die verhängnisvolle Schlagzeile entgegen: "Dr. Volker Juds neuer Mann in der Leitung des Gesundheitsamtes: Wegbereiter in den Tod:". Es folgte in der nächsten Zeile zwar noch worauf sich der zweite Teil der Aussage eigentlich bezog, nämlich "Rauchen und Übergewicht", dennoch hätte sich der neue Amtsarzt keinen "positiveren" Einstieg wünschen können.

(1988)


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