Der Amtsarzt im ...

Abenteuer eines Amtsarztes
Unglaublich wahre Kurzgeschichten

... Lauf der Zeit

25. Lehrerinnen

Dass auch das weibliche Geschlecht im Lehrberuf von psychischen Auffälligkeiten nicht ausgenommen ist, sollen die folgenden zwei Berichte veranschaulichen. Es geschah zu der Zeit, als der Landtag den Amtsärzten noch nicht das Vertrauen entzogen und die Beurteilung der Dienstunfähigkeit bayerischer Beamter von den Gesundheitsämtern auf die Regierungen übertragen hatte.

Eigentlich hatte die 58-jährige Kunsterzieherin alles richtig gemacht. Sie hatte im Vorjahr erfolglos eine Kur absolviert, wies vermehrt krankheitsbedingte Fehlzeiten auf und legte zur von ihr beantragten amtsärztlichen Untersuchung gleich fünf fachärztliche Atteste vor. Ihr Anliegen war klar. Sie fühle sich aufgrund ihrer Beschwerden nicht mehr in der Lage, im Zeichensaal zu unterrichten und beantrage deshalb ihre Frühpensionierung. Insbesondere eine Allergie auf Speckstein-Staub und Lösemittel verursache bei ihr einen ständigen Hustenreiz, verstopfte Nase und brennende Augen. Auffällig sei, dass sich die Beschwerden jeweils in der unterrichtsfreien Zeit besserten, am deutlichsten während der Ferien. Der Schulleiter habe bereits auf ihre Veranlassung hin die Unterrichtsräume vom TÜV auf Schadstoffe untersuchen lassen. Die vorgelegten Arztbriefe untermauerten ihre Aussagen. Allerdings hatte sich beim Internisten am ausgeprägtesten eine Allergie gegen Hundehaare gezeigt. Dies hinderte die Beamtin jedoch nicht daran, ausgerechnet dieses Haustier zu halten. Unter medizinischen Gesichtspunkten hätte also der Aufenthalt in der Schule für ihre Gesundheit eher förderlich sein können. Weiter habe sich nach Einreiben der Haut mit Speckstein-Weiß dort eine Schwellung und entzündliche Reaktion gezeigt, vorübergehend sei auch die Ameisensäure im Urin als Ausdruck einer Formaldehydbelastung erhöht gewesen. Bei der körperlichen Untersuchung konnte der Amtsarzt keine Befunde von Krankheitswert feststellen, insbesondere zeigte sich eine völlig normale Lungenfunktion. Die Messungen in der Schule hatten Ergebnisse erbracht, die deutlich unter den Richtwerten des Bundesgesundheitsamtes lagen. Der Amtsarzt erklärte die Lehrkraft für dienstfähig, hob damit die Krankschreibung der Hausärztin auf, empfahl aber gleichzeitig ihr und der Schule, möglicherweise belastende Faktoren bei der Kunstarbeit zu verringern. Da sich die Oberstudienrätin damit nicht zufrieden gab - dem Vernehmen nach war bereits eine längere Studienreise nach Italien geplant -, musste am Ende ein allergologisch-arbeitsmedizinisches Fachgutachten der Universität entscheiden. Auch dort zeigten sich in jeder Hinsicht völlig normale Körperfunktionen, nicht einmal eine einzige Reaktion auf 47 getestete Allergene konnte festgestellt werden. Die vom behandelnden Internisten beschriebene Hautreaktion auf Speckstein-Weiß wurde auf das heftige Reiben zurückgeführt. Auch durch diese objektiv erhobenen Befunde konnte eine Dienstunfähigkeit für die Tätigkeit als Kunsterzieherin nicht begründet werden. Die Lehrerin musste also ihre Italienreise in die Ferien verschieben.

Der zweite Fall, von dem ich berichten möchte, entwickelte sich entgegengesetzt. Bewaffnet mit Gletscherbrille und Klapphocker betrat die 49-jährige Lehrerin das Untersuchungszimmer. Im Auftrag des Schulamtes sollte ihre Dienstfähigkeit überprüft werden, nachdem sie seit Schuljahresbeginn bereits drei Monate krankgeschrieben war. Die Sonnenbrille brauche sie wegen ihrer empfindlichen Augen, den Hocker zum Hochstellen der Beine und zum Hinknien, um ihre schmerzenden Venen zu entlasten. Und das seien auch die Gründe, warum sie nicht mehr unterrichten könne. Seit etwa einem halben Jahr leide sie an einem unerträglichen Ziehen und Brennen in den Augen, sodass sie nur noch kurzzeitig lesen könne. Im letzten Schuljahr hätten deshalb zuletzt die Kolleginnen die Arbeiten korrigieren und die Zeugnisse schreiben müssen. Da nicht nur das Lesen ihre Augen anstrenge, sondern auch der Blick in die Ferne, könne sie höchstens noch 10 km Auto fahren. Wegen ihrer Augenprobleme habe sie bereits drei Augenärzte aufgesucht, zuletzt sogar die Universitätsaugenklinik, aber niemand habe eine Erklärung für die Beschwerden gefunden. Krankgeschrieben sei sie jetzt von ihrer Hausärztin wegen der chronifizierten Sehschwäche. Weiter würden ihre Beine wegen eines Venenleidens schwer werden und schmerzen, wenn die Unterschenkel frei nach unten hängen. Um dies zu vermeiden, führe sie auch immer den Klapphocker mit sich. Der Amtsarzt hatte noch nie davon gehört, dass man wegen einer chronifizierten Sehschwäche krankgeschrieben werden konnte. Noch überraschter war er, als sich die Lehrerin zur Untersuchung vor ihm hinkniete, da sie ja nicht stehen könne. Er fühlte sich in einen Pfarrer versetzt, der das Abendmahl austeilt. Oder in einen Henker am Schafott. Diese Untersuchung war die ungewöhnlichste, die er je durchgeführt hatte. Sie ergab keinerlei Befunde von Krankheitswert, selbst das Venensystem zeigte sich völlig unauffällig. Außerdem wäre bei den angegebenen Beinbeschwerden gerade der Lehrberuf ein sehr günstiger, weil er die Möglichkeit dazu bietet, abwechselnd zu sitzen, zu gehen oder zu stehen. Sicherheitshalber zog er noch die beratende Nervenärztin am Gesundheitsamt hinzu. Übereinstimmend konnten sie keinen Grund für eine weitere Krankschreibung feststellen und so erklärte er die Lehrkraft für dienstfähig. Auch die befragte Universitätsaugenklinik äußerte, dass eine Weiterbestätigung der Arbeitsunfähigkeit von augenärztlicher Seite nicht zu rechtfertigen sei. All dies hinderte die Pädagogin jedoch nicht daran, sich weiter krankschreiben zu lassen, diesmal allerdings von einem Nervenarzt. Vor der nun fälligen dienstaufsichtlichen Würdigung schlug der Amtsarzt die Einholung eines nervenärztlichen Obergutachtens vor. Die Universitätsnervenklinik diagnostizierte eine hypochondrische Entwicklung bei einer Persönlichkeitsstörung und attestierte vorübergehende Arbeitsunfähigkeit. Inzwischen sind über fünf Jahre vergangen, sodass die Ruhestandsbeamtin nicht mehr gegen ihren Willen reaktiviert werden kann. Merke: auch eine eingebildete Krankheit kann also zur Dienstunfähigkeit führen!

(1995)


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